Nicht jeder hätte auf den ersten Blick verstanden, warum Jajo Probleme mit seinen Eltern hatte. Jajo? Na gut, mit vollem Namen hieß er Jan-Johann Triebenrieder, aber so nannte ihn nun wirklich keiner. Jedenfalls keiner in der Schule, bis auf die Lehrer vielleicht.
Jajo war gerade eben sechzehn geworden. Ein Nebeneffekt davon war die Tatsache, daß er jetzt endlich ein eigenes Zimmer bekommen hatte, und sich sein Zimmer nicht länger mit seiner neunjährigen Schwester teilen brauchte. Wenn er sich den Gesichtsausdruck seiner Mutter in Erinnerung rief, als diese bei seiner Geburtstagsfeier verkündete, daß nun ein großes Zimmerwechseln beginnen würde, daß die Schwester das (relativ kleine) Elternschlafzimmer bekommen solle, daß die Eltern ins (relativ große) Kinderzimmer wechseln würden und daß Jajo das ehemalige Gästezimmer bekommen solle, dann durchflutete ihn noch immer eine Mischung aus Freundschaft und Haß. Dieses hintersinnig durchtriebene Grinsen, dieser Unterton in ihrer Stimme ... Jajo interpretierte das als "mit 16 braucht ein Junge ja endlich eigene Freiräume, von wegen Pubertät und so". Er war froh, auf derart verständnisvolle Eltern gestoßen zu sein. Gleichzeitig wollte er nicht wie der Klischee-Junge von nebenan behandelt werden.
Jedenfalls hatte Jajo jetzt endlich einen eigenen Raum. Das Zimmer war ziemlich klein, und es war eine ganze Menge Arbeit gewesen, alles so einzurichten, wie er es haben wollte. Begonnen hatte es damit, daß das Zimmer leergeräumte wurde. Dann kamen neue Tapeten rein; Jajo hatte sich welche mit blauen Streifen ausgesucht und zum größten Teil auch selber an die Wand gebracht. Sein Schreibtisch und sein Teil vom Stockbett wanderten jetzt in den neuen Raum; er bekam auch einen neuen Schrank.
Der Raum war damit schon ziemlich vollgestopft, und als "rich kid" hatte Jajo natürlich einen PC auf seinem Schreibtisch und eine Anlage neben einem Bett stehen. Materiell ging es den Triebenrieders gut, und auch sonst fühlte Jajo sich gut aufgehoben, zuhause. Umso schwieriger ist es eben, zu verstehen, warum er jetzt wirklich Probleme mit seinen Eltern hatte.
Jajo rauchte nicht, obwohl einige aus seiner Klasse schon seit einem Jahr in der großen Pause mit Zigaretten im Fahrradkeller zu finden waren. Ihn widerte der Tabakgeruch an. Hätte Jajo geraucht, hätten seine Eltern wahrscheinlich Verständnis gezeigt, ein paar warnende Worte gesprochen und ihn ansonsten eben rauchen lassen.
Jajo nahm auch keine Drogen, obwohl er ab und zu auf Parties war, auf denen auch schon mal ein Joint rumging. Er fand Drogen nicht sonderlich interessant, und außerdem störten ihn die Kiffer, die deswegen mit Rauchen anfingen. Aber selbst wenn Jajo gekifft hätte, hätten seine Eltern wahrscheinlich an ihre eigene Jugendzeit zurückgedacht, an die frühen 70er.
Spät aus der Stadt zurückkommen? Lange aufbleiben? Leute bei sich übernachten lassen? Auf Demos gehen? Ab und zu mal Schule schwänzen? - Jajo hatte das Glück, in all diesen Punkten tatsächlich auf überaus liberale Eltern gestoßen zu sein. Jedenfalls gab es nie deswegen Zoff.
Warum also hatte Jajo Probleme mit seinen schrecklich lieben, toleranten, verständnisvollen Eltern? Der Trendforscher Matthias Horx hätte jetzt vermutet, daß Jajo genau dieses Verständnis, diese ewige Toleranz zum Hals raushängen würde - aber das war es auch nicht. Klar nervte es manchmal Jajo, daß seine Eltern auch überhaupt nicht zu schockieren waren (was nicht ganz stimmte); ihn nervte auch die unterschwellige Erwartungshaltung beim Punkt "Pubertät und erste sexuelle Erfahrungen", die ihm wahrscheinlich letztendlich das eigene Zimmer eingebracht hatte. Aber all dies waren keine Gründe, warum es zwischen Jajo und seinen Eltern zu Streit hätte kommen sollen.
Um es kurz zu machen: Bei den Überlegungen zur Zimmereinrichtung war Jajo eine Idee gekommen, die er hinreißen fand und unbedingt verwirklichen wollte. Seine Eltern waren der Meinung, daß das nun absolut nicht möglich sei, ohne auch nur irgendeine vernünftige Begründung anzubringen. Seit zwei Monaten versuchte er nun schon, eine Blumenwiese in seinem Zimmer erlaubt zu bekommen - aber seine Eltern blieben stur.
Aber Jajo war nunmal Jajo - phantasievoll, eigensinnig und manchmal sehr starrköpfig. In einem unbewachten Moment, seine Eltern waren das Wochenende über auf einem Kongreß, setze er seine Idee schließlich um. Er kaufte mehre Säcke Blumenerde und eine Plastikfolie, wie sie für Teiche verwendet wird. Er räumte sein Zimmer nochmal leer; bis auf den Schrank und das Bett, legte den Boden mit Folie aus, die er an die Wand nagelte, und fing dann an, die Erde und vorher noch eine Schicht aus Sand und Holzasche auszuschütten. Schließlich säte er die große Packung Wiesensamen aus und legte mit einigen Steinen einen Weg von der Tür zum Schrank, zum Schreibtisch und zum Bett.
Es war der größte Krach, den Jajo jemals erlebt hatte, als seine Eltern wiederkamen und die Bescherung entdeckten. Fast eine Woche lang ging Jajo ihnen aus dem Weg, oft knallten Türen und der Geschreipegel war doppelt so hoch wie üblicherweise. Jajo war sauer, sauer auf das Unverständnis seiner Familie, sauer vielleicht auch auf sich selbst. Oft schlief er in dieser Woche heulend ein; nicht etwa, weil seine Eltern ihn geschlagen hätten, nein, er hatte seelisches Bauchweh, ertrug die Mißstimmung nicht. Aber er hatte trotz allem Glück: Zähneknirschend ließen seine Eltern seine Wiese in Ruhe und verlangten nicht, daß das Zimmer wieder "normal" werden solle.
Hätten sie das getan, wäre Jajo wahrscheinlich mitrausgegangen und hätte mindestens eine Woche lang nicht mehr das Haus betreten.
Jajo behielt seine Wiese. Irgendwann, ganz langsam, gewöhnten sich auch seine Mitmenschen daran, daß ein Zimmer eben durchaus auch eine lehmige, dreckige Fläche enthalten kann, die eines Tages vielleicht mal zu einer Blumenwiese werden wird.
Nach weiteren fünf Wochen hatte Jajo dann das schönste Zimmer in der ganzen Stadt. Und seine Mutter dachte daran, wie sie Jajos Vater bei einem alternativen Stadtfest kennengelernt hatte. Wie sie erst auf der Mauer am Fluß gesessen waren, und später am Nachmittag dann engumschlungen inmitten von hohem Gras, Magritten und Hahnenfuß in der Wiese lagen.
ENDE
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