Rudi Dutschke fehlt uns nicht

Zum und im Unistreik im Wintersemester 1997/98 geschrieben.

Ziemlich genau 30 Jahre nach den Unruhen von 1968 passiert etwas. Wieder sind es Studierende, wieder geht es gegen die herrschende Politik, wieder werden medial wirksame Aktionsformen ergriffen. Nur allzunahe liegt da der Schluß, wir würden gerade eine Neuauflage der 'postmodernen Revolte' von 1968 erleben. Und manche und mancher mag sich selbst schon in der Rolle einer revolutionären FührerIn sehen. "Jetzt fehlt nur noch ein Rudi Dutschke", soll jemand gesagt haben. Ich glaube nicht, daß es einzig das fehlende Führungspersonal ist, was verhindert, daß aus 97 68 wird. Statt dessen möchte ich drei große Unterschiede zwischen damals und heute feststellen (was nicht heißen soll, daß es nicht noch sehr viel mehr Unterschiede gibt, und was auch nicht heißen soll, daß es nicht auch Gemeinsamkeiten gibt):

1. Vor 68 ist nicht nach 68. Die Ereignisse in den endsechziger Jahren haben einen Veränderungsprozeß in der Bundesrepublik katalysiert, der zu dem führt, was als Postmoderne, späte Moderne, zweite Moderne, usw. analysiert wurde. Das bedeutet zum Beispiel auch, daß sich autoritär-hierarchische Einstellungen tendenziell hin zu individualistisch-kooperativen Einstellungen verschoben haben. Die monolithische Wertmuster der Einheitsgesellschaft der 50er Jahre wurden aufgeweicht und sind inzwischen zu einer mit den Versatzstücken ungleichzeitiger Ideologien überzogen Collage geworden. Auf den Streik bezogen heißt es, daß ProfessorInnen das Spiel des symbolischen Aufstandes mitspielen, daß Rektoren lieber Fototermine erzeugen als die Polizei zu rufen, und daß demonstrierende Studierende inzwischen an einer sehr großen Kollektiverfahrung medieneffektiven Handelns teilhaben können. Und daß es PolitikerInnen aller Coleur möglich ist, lieber in den Klagechor miteinzustimmen als sich selbst als TäterInnen zu betrachten.

2. Wir brauchen keine Führer. Neben der Teilhabe am Kollektivwissen um Medieneffizienz hat sich seit etwa einer Generation in den Köpfen ein latenter Antiautoritarismus, ein Hang hin zur postmodern-anarchischen Selbstverantwortung festgesetzt. Bei vielen ist diese mentale Hemmschwelle verankert, die verhindet, sich jetzt allzu einfachen Analysen hinzugeben. Klar - es gibt gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge, und sei es der, daß das Sparen mit dem Rasenmäher eben sowohl den Sozialstaat als auch die Bildungsrepublik betrifft. Aber bisher zumindest hat das Groß der Streikenden keine Lust darauf, den Protest gegen die sich rapide verschlechternde Studienbedingungen instrumentalisieren zu lassen von den DeuterInnen und ErklärerInnen einfach gestrickter, alt-modernischer Weltbilder. Wer an den alten großen Ganzheiten wie 'das System' oder 'das Kapital' festhält, läuft Gefahr, sich lächerlich zu machen.

3. Wir sind so viele, weil es nicht um alles geht. Die 'revolutionären Massen' sind lieber ganz und gar heterogen, bunt und vielfältig in der Gesamtheit. Wer mehr sein möchte als bloß KoordinatorIn der Aktivitäten, wer mehr als eine Rolle des Austausches, der zentralen Vermittlung, der Moderation übernehmen möchte, wird es schwer haben, in der protestierenden Vielheit die Masse wiederzufinden. Der Versuch, aus den Hochschulprotesten eine Weltrevolution zu kompilieren, erscheint unglaubwürdig. Neben den eher unschönen Sympathiebekundungen der Verantwortlichen für die Misere gibt es zur Zeit eine erfreulich positive Grundhaltung in der Gesellschaft - und vor allem auch unter allen Studierenden. Verglichen mit 1968 sind es sehr viele, die sich den Protesten anschließen. Und das mag eben auch daran liegen, daß es nicht darum geht, alles zu ändern, sondern um das System Hochschule, um den Zusammenhang Bildung, um Sozialabbau und Benachteiligungen benachteiligter Gruppen, soweit sie in dieses System hineinreichen.

Möglicherweise ändert sich die Situation. Möglicherweise liegt die Analyse falsch. Aber gerade auch, wenn diese drei Differenzen zu 1968 stimmen - wenn wir also in einer anderen Umgebung mit anderen Mehrheitsverhältnissen in anderen Formen des Protests und der internen Strukturierung für andere Ziele kämpfen - sollten wir das nicht als etwas negatives sehen. Betrachten wir den  'Hochschulstreik bundesweit' als ein eigenständiges Ereignis, ohne ständig zurückzublicken, so bildet sich aus den Handlungen der Streikenden eine eigenständige Bedeutung. Welche Anschlüsse sich an diese Bedeutung hängen werden, kann jetzt noch nicht entschieden werden. Vielleicht erscheint '97' eines Tages, aus der Ferne betrachtet, ebenfalls als Katalysator einer Veränderung - vielleicht erreichen wir aber auch nur einige wenige Verbesserungen der Situation an den Hochschulen. Und selbst, wenn all dieses nicht zutrifft, ist so ein Streik noch immer eine ziemlich interessante, stressige, neuartige Erfahrung, die vielleicht die Biographien einiger Teilnehmender verändert. Ist das nichts?
 

Till Westermayer, November 1997