Mehr Sternstunden!

Fraktionen sind wichtig, aber nicht das einzige, was zählt

Letzte Woche Mittwoch hat der Bundestag in einer ‚freigegebenen' Abstimmung darüber entschieden, ob embryonale Stammzellen zu Forschungszwecken importiert werden dürfen oder nicht. Mir geht es hier nicht um diese Frage, sondern um eine bloße Verfahrensfrage: Die Tatsache, dass bei dieser Abstimmung auf den Fraktionszwang (den übrigens z.B. das Grundgesetz nicht kennt) verzichtet wurde. Das Ergebnis war etwas, was in den Medienkommentaren gerne mit dem Begriff "Sternstunde des Parlaments" bezeichnet wird: es gab eine lange und ernsthafte Debatte, es gab eine echte Wahl zwischen unterschiedlichen Anträgen, und es stand nicht schon lange vor der Abstimmung fest, was das Ergebnis sein würde.

Es liegt nahe, mehr dieser Sternstunden zu fordern. Dem wird zumeist entgegnet, dass erstens Fraktionen und Fraktionszwang praktisch sind und eine gewisse Arbeitsteilung ermöglichen, zweitens, dass ohne Fraktionszwang wechselnde Mehrheiten drohen würden, dass also jegliche Gewissheit über den Kurs einer Regierung fehlen würde, und drittens, dass in Gewissensfragen ja üblicherweise der Fraktionszwang eh aufgehoben sei.

Fangen wir mit dem letzten Argument an: Was ist eine Gewissensfrage? Der christlich-abendländische Hintergrund der Mehrheit der ParlamentarierInnen legt nahe, dass Gewissensfragen vor allem solche sind, bei denen es um Leben und Tod geht, oder etwas genereller gefasst: um solche, bei denen religiös motivierte Tabus und Regelungen in Gefahr sind. Warum aber ist die Abwägung um Leben oder Tod von Zellhaufen im Vergleich zu Leben oder Tod potenziell geheilter Kranker eine Gewissensentscheidung, die Frage des militärischen Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan, die Frage der Erhöhung oder Senkung der Sozialausgaben oder die Reform des Gesundheitssystems - alles Punkte, die durchaus Abwägungen zwischen ähnlichen Problemfeldern umfassen - aber nicht? Wenn der Begriff der Gewissensentscheidung ernst genommen und etwas weiter gefasst wird, dürften sich letztlich drei verschiedene Formen von Entscheidungen herauskristallisieren: Mehr oder weniger einhellige Entscheidungen, bei denen es quer durch die Fraktionen Dissens eigentlich nur an Detailpunkten gibt (und immer auch mit der Überlegung, die eigene Fraktion zu profilieren), politisch kontroverse Entscheidungen, bei denen zwei verschiedene politische Lösungen von Gewissensaspekten her eher äquivalent sind, und als letzte Gruppe echte Gewissensentscheidungen, bei denen die Kontroverse Grundwerte antastet. Im ersten Fall ist Fraktionszwang nur ein Hilfsmittel zur Profilierung und muss eigentlich gar nicht angewendet werden. Im zweiten Fall macht Fraktionszwang dann Sinn, wenn die Kontroverse sich tatsächlich entlang von Opposition und Regierung ausbreitet und nicht quer dazu. Und im dritten Fall wird auch heute schon eher für einen Verzicht auf den Fraktionszwang plädiert. Als Fazit daraus erscheint es mir nur in sehr wenigen Fällen politisch sinnvoll, auf Fraktionszwang zu bestehen - nämlich die Fälle, bei denen politische Kontroversen ohne Gewissensaspekt, aber mit unterschiedlichen Lösungsvorschlägen klar zwischen Opposition und Regierung zu trennen sind und auch anhand dieser Linie entschieden werden. Dementsprechend würde eine Ausweitung der Fraktionsfreiheit durchaus sinnvoll sein.

Bleiben die Argumente der Effizienz der parlamentarischen Arbeit und der Angst vor den wechselnden Mehrheiten. Das Effizienzargument -- einzelne Abgeordnete müssen sich nicht um alles kümmern, sondern können sich auf die Arbeit in ihrer Fraktion verlassen -- scheint mir nur in einem mittleren Bereich von Entscheidungen gültig. Im eher administrativ-politischen Bereich unterscheiden sich die Positionen der einzelnen Fraktionen und Parteien oft kaum. Hier kann die Arbeitsteilung auch auf den Bundestag als ganzen angewandt werden. Und im Bereich der großen politischen Kontroversen hat eh jede und jeder Abgeordnete eine eigene Meinung. Hier greift das Element der Arbeitsteilung nicht. Auch hier spricht also vieles dafür, den Fraktionszwang nicht als Regel, sondern als Ausnahme gelten zu lassen.

Wie sieht es schließlich mit den wechselnden Mehrheiten aus? Dahinter verbirgt sich zum einen die Frage der personellen Kontinuität. Aber was spricht dagegen, dass ein Bundestag durchaus mit den Stimmen einer Koalition (und vorher verhandelten Personenpaketen) KanzlerIn und MinisterInnen wählt und sich über Ausschüsse einigt? Es muss noch nicht einmal soweit gegangen werden, dass wie in der Schweiz die Regierung aus einer ganz großen Koalition heraus gebildet wird. Personen und Programme wären - der zweite Punkt aus Angst vor den wechselnden Mehrheiten -- nicht unbedingt immer deckungsgleich. Hier scheint mir tatsächlich ein valides Argument für den Fraktionszwang zu finden sein; gerade auch Vorschläge kleinerer Parteien in einer Koalition sind erst dann umsetzbar, wenn die Abgeordneten der größeren Koalitionspartei dazu gezwungen werden können, hier mitzuziehen, nachdem sich die Koalition insgesamt geeinigt hat. Es wird deutlich, dass hier zumindest eine Änderung der politischen Kultur angestrebt werden müsste, um den Fraktionszwang als Ausnahme statt als Regel tragbar zu machen. Dazu müsste einerseits die Selbstverständlichkeit von Koalitionsabstimmungen und einem gewissen Fraktionszwang im Bereich der mittleren Entscheidungen gehören, zum anderen aber auch die Selbstverständlichkeit, dass das Parlament als solches souverän genug ist, große Kontroversen als Parlament insgesamt zu entscheiden. Damit wäre dann aber auch hinzunehmen, dass ein Parlament sich für ein politisches Programm ausspricht, das nicht das Programm der Regierung, das Programm der KanzlerIn in diesem Punkt ist, ohne dass dies gleich Regierungskrisen und Vertrauensfragen nach sich zieht.

So hochgelobt das Grundgesetz und die parlamentarische Arbeit auch erscheinen - wer an einem parlamentarischen System festhalten will, muss auch darüber nachdenken, ob der Parteienmacht systematische Einschränkungen zu machen sind, ohne gleich Gespenster von Chaos und Unregierbarkeit hervorzurufen. Wer ernst nimmt, dass Gesetze, Regularien und Kulturen sich auch im politischen Bereich verändern können, wer zustimmt, dass diese nicht statisch sind, muss sich heute Gedanken darüber machen, wie Ansätze aussehen könnten, hier andere Anreize zu geben.


 
(c) Till Westermayer, Februar 2002. Veröffentlicht in: u-asta-info 681, 7.02.02, S. 8/9.