Partei des kleineren Übels

oder: ein Plädoyer dafür, gerade jetzt in die Grünen einzutreten

Es ist einfach, Polemiken zu schreiben. Viel einfacher jedenfalls, als Politik zu machen, auch wenn beide Wörter mit den gleichen Buchstaben anfangen. Was ließe sich nicht alles sagen, über einen falschen Krieg, über eine Partei, die ihre Ziele verrät, um an der Macht zu bleiben, und über einen Bundeskanzler, der nicht so recht unterscheiden kann zwischen Vertrauen und Erpressung. Trotzdem möchte ich hier keine Polemik schreiben, sondern versuchen, um Verständnis dafür zu werben, wie die Grünen sich in Rostock entschieden haben, und deutlich zu machen, warum ich glaube, dass Bündnis 90/Die Grünen noch eine Zukunft haben.

Fangen wir mit den Fakten an: In vielen Kreisverbänden der Grünen sind in den letzten Wochen Resolutionen verfasst worden, in denen ein Ende des Krieges gefordert und vehement gegen eine deutsche Beteiligung gestritten wurde. Dementsprechend lagen dem Bundesparteitag der Grünen in Rostock – unter dem Motto ‘streitbar, offen, zukunftsfähig’ – zum Punkt ‘Krieg und Frieden’ ca. sechzig verschiedene Anträge vor. Die überwiegende Mehrheit dieser Anträge forderte dazu auf, vom grünen Kurs nicht abzuweichen. Einige beließen es bei der Kritik am Afghanistankrieg, andere gingen einen Schritt weiter und riefen explizit dazu auf, die Koalition zu verlassen. Zur Abstimmung kamen keine sechzig Anträge, sondern nur noch neun: sieben aus der Parteilinken, ein Kompromissantrag des Bundesvorstands, der dem Vernehmen nach in einer langen Nachtsitzung zwischen Claudia Roth und Fritz Kuhn ausgehandelt worden war, und der Akzeptanz für den deutschen Kriegseinsatz mit einer scharfen Kritik an den besonders inhumanen Auswüchsen dieses Krieges verbindet, sowie ein von Ralf Fücks und anderen prominenten ‘Realos’ eingebrachter Antrag, der dem Außenminister und seinem Kurs volle Unterstützung zusichert. Nach einer elfstündigen Debatte mit etwa dreißig RednerInnen wurden in einem Meinungsbild (hier konnte jedeR Delegierte zu jedem Antrag ja oder nein sagen) mit einem deutlichen Abstand zu den ‘linken’ Anträgen (die etwa 40% Zustimmung erhielten) der Bundesvorstandsantrag (etwa 56%) und der Fücks-Antrag (etwa 50%) in die Endabstimmung genommen. In dieser entschied sich eine sehr deutliche Mehrheit dafür, den u.a. durch die eindeutige Begrenzung des Einsatzgebietes und ein klares Bekenntnis zur prinzipiellen Gewaltfreiheit weiter abgeschwächten Vorstandsantrag anzunehmen.

Wie kam es dazu? Eine entscheidende Rolle dürfte sicherlich bei vielen Delegierten die Tatsache gespielt haben, dass etwa Claudia Roth noch einmal sehr deutlich gemacht hat, dass diese partielle Abkehr vom Pazifismus keine Hinwendung zum Militarismus bedeutet. Militärische Einsätze werden als ultima ratio anerkannt, müssen aber in politische Konzepte eingebettet sein. Sie müssen zielführend und verhältnismäßig sein, zivile Opfer sollen weitgehend vermieden werden. Es werden Mandate der UN verlangt, und es wird darüber hinaus ein Konzept der europäischen Integration, der globalen Gerechtigkeit und der Menschenrechtspolitik als Bestandteil grüner Außenpolitik gefordert. Es lässt sich darüber streiten, wie weit diese Punkte beim Afghanistankrieg Beachtung finden. Fakt ist, dass andere Regierungskonstellationen sich weniger Gedanken um einen – so seltsam das klingt – mit Friedenskompetenz geführten Krieg machen würden. Und damit sind wir schon beim zweiten Grund dafür, warum letztlich eine Mehrheit für den Bundesvorstandsantrag zustande kam: Insbesondere Joschka Fischer hat in seiner Rede die Abstimmung zu einer Frage des Vertrauens in seine Außenpolitik erklärt, und er hat – in einem sehr emotional gehaltenen, scherenschnittartigen Schema – deutlich gemacht, dass ein Nein zum Krieg auch ein Nein zur Koalition sein wird; nicht nur für die nächsten Monate, sondern auch für die nächste Legislaturperiode. Zudem dürfte in vielen Köpfen das wahrscheinlich verhängnisvolle Ergebnis von Neuwahlen zum jetzigen Zeitpunkt eine Rolle gespielt haben.

Alles das haben die Delegierten in den nicht einfachen Abwägungsprozess einbezogen – der im Endeffekt das Ergebnis einer schon seit Wochen in den Kreisverbänden, Landesverbänden und jetzt auf Bundesebene geführten Diskussion war –, um schließlich dem Bundesvorstandsantrag zuzustimmen. Dieser Antrag ist – im guten wie im schlechten – ein Kompromissantrag. Es werden viele verschiedene Gruppen innerhalb der Partei bedient: Einerseits wird die Zustimmung zum aktuellen Einsatz mit dem Begriff der Akzeptanz sehr abgeschwächt, und es wird viel Wert auf kritische Solidarität gelegt. Der Bundeskanzler wird gerügt und die abweichenden Meinungen in der Fraktion verteidigt. Andererseits macht der Antrag aber auch deutlich, dass militärische Mittel von Bündnis 90/Die Grünen inzwischen akzeptiert werden, und dass eine grüne Politik keine reine pazifistische Politik mehr ist. Damit ermöglicht dieser Kompromiss es letztlich sowohl Fischer, ihn als Unterstützung auch der militärischen Anteile seiner Außenpolitik zu verstehen, als auch den Parteilinken um Winne Hermann, Annelie Buntenbach und Christian Ströbele, in der Partei zu bleiben, und weiterhin für einen deutlich anderen Kurs zu kämpfen. Ein entsprechender Aufruf hat inzwischen viele UnterstützerInnen gefunden.

Ich persönlich rechne nicht damit, dass sich der Kurs der Grünen in dieser Frage schnell ändern wird. Letztlich kann er als besonders deutliches Symptom eines Desillusionierungsprozesses betrachtet werden, der spätestens seit der Regierungsbeteiligung 1998 eingesetzt hat. Während die Mitglieder von Bündnis 90/Die Grünen im Schnelldurchgang die Tugend der Regierungsfähigkeit für sich entdeckt haben – für sich entdecken mussten –, taten sich zunehmend Klüfte zu den Bewegungen und Milieus auf, aus denen die Grünen einst entstanden sind. Vom in die Länge gezogenen Atomausstieg über diverse militärische Aktionen im Kosovo und Mazedonien bis hin zum nur halb realisierten neuen Staatsangehörigkeitsgesetz und zum eher bescheidenen Umgang mit dem Globalisierungsthema wurde deutlich, dass in dieser Koalition Bündnis 90/Die Grünen zwar den Reformmotor darstellen, dass aber zugleich der Tanker SPD und die oft blockierende schwarzgelbe Länderopposition große Sprünge verunmöglichen. Für sich genommen gibt es einige erfolgreiche Reformvorhaben (Erneuerbare-Energien-Gesetz, Homoehe, und wer will, darf auch die finanzielle Konsolidierung hinzurechnen). Richtig deutlich wird das Gewicht der grünen Regierungsbeteiligung erst, wenn als Hintergrund nicht die hochgestochenen Erwartungen aus dem Wahlprogramm und zum Teil aus dem Koalitionsvertrag herangezogen werden, sondern das, was eine schwarze oder rotgelbe Regierung in den vergangenen Jahren vermutlich aus dieser Republik gemacht hätte. So viel unerfüllt bleibt, so viel halbherzig angepackt wurde – ohne grüne Regierungsbeteiligung sähe Deutschland heute anders und meiner Meinung nach schlechter aus.

Damit wird aber eines deutlich: eine Partei – jede Partei, auch die PDS! – die in Deutschland mitregieren will, wird irgendwann vor der Frage stehen, welche Rolle Grundsätze in der Alltagspolitik spielen, und jede Partei wird sich die Finger schmutzig machen. Diese Frage wurde meiner Meinung nach bei Bündnis 90/Die Grünen offen und ehrlich – und sehr streitbar – diskutiert, mit dem Ergebnis, dass nun sehr viel deutlicher als vorher zwischen den Grundsätzen und der Tagespolitik unterschieden wird. Insgesamt ist eine Hinwendung zum Pragmatismus und zu einer vernünftigen, aber deswegen oft auch enttäuschenden Politik festzustellen. Beides hat viel damit zu tun, dass die Machtverhältnisse in dieser Koalition sehr ungleich verteilt sind, dass die Richtlinienkompetenz der KanzlerIn, die im Koalitionsvertrag festgehaltene Fraktionsdisziplin, die Vertrauensfrage und andere deutsche Untugenden zusammen mit der Person Schröder dem kleinen Koalitionspartner viel Luft wegnehmen und einen sehr starken Zwang ausüben, sich auf die Politik dieser SPD einzulassen. Trotz der oben erwähnten Funktion als Reformmotor bleiben in vielen Politikfeldern da letztlich nur grüne Akzente übrig – auch und gerade dann, wenn es um Krieg oder Frieden geht.

Es ist einfach, Polemiken zu schreiben. Es ist einfach, wie es jetzt gerade die FDP tut, zu rügen, dass die Grünen umknicken. Eine rationale Betrachtung zeigt, dass die politischen Ergebnisse in jedem Feld ohne die Grünen in der Regierung noch weniger grün wären als mit Regierungsgrün. Beides ist nicht genug, aber ohne einen sehr viel größeren Stimmenanteil und ohne eine sehr viel größere gesellschaftliche Unterstützung für diese grüne, linke, und irgendwie noch immer alternative Reformpolitik wird in der nächsten Zeit nicht mehr herauszuholen sein. Wer wieder grüne Grüne will, hat deswegen zwei Möglichkeiten: entweder einen realitätsverlorenen Weg zurück in die Opposition zu fordern, wo sich eine fantastische Programmatik entwickeln lässt – mehr aber auch nicht. Oder aber über den Schatten des Machbaren zu springen und sich damit anzufreunden, dass Parteien im kapitalistisch-demokratischen System nur eine sehr beschränkte Gestaltungsmacht haben, dass diese aber umso größer ist, je stärker das Personal, die Basis und die gesellschaftliche Verankerung einer Partei sind. Es klingt paradox: wer unzufrieden damit ist, wie Grüne zur Zeit mitregieren, kann dies nur dadurch ändern, dass er oder sie bei der nächsten Wahl in kritischer Solidarität grün wählt – und am besten vorher in diese Partei eintritt, um darüber mitzubestimmen, welche KandidatInnen für den Bundestag aufgestellt werden und welches Programm vertreten wird. Die Grünen mögen zur Zeit die Partei des kleineren Übels sein, aber sie werden noch gebraucht. Denn eine realistische Alternative innerhalb des Parteiensystems gibt es nicht.


 
(c) Till Westermayer, Dezember 2001. Veröffentlicht in: u-asta-info 678, 6.12.01, S. 4/5.