Wir nach dem Ende der Utopien

Für das politische Geschäft scheinen Utopien nicht relevant zu sein. Quer durch alle Lager hindurch finden sich kaum PolitikerInnen, die sich als Erfüllungsgehilfen zur Verwirklichung einer Utopie im Sinne eines umfassenden Staats- und Gesellschaftsentwurf verstehen

Das war nicht immer so. Historisch gesehen gab es große utopie-orientierte Bewegungen. Seit Thomas Morus im 16. Jahrhundert den Staatsroman Utopia schrieb, in dem er eine Gesellschaft schildert, die eine Alternative zur Armut und Korruption der damaligen Wirk-lichkeit bietet, etablierte sich die Idee, politisch-philosophisches Gedankengut in Form von Utopien unter das Volk zu bringen. Auf Morus folgten weitere Renaissance-Utopien. Ihren politischen Höhepunkt erlebte sie mit den Frühsozialisten im 18. Jahrhundert, um im 20. Jahrhundert in der Form der Science Fiction als eher technisch als gesellschaftlich orientierter Prosa und in den Schreckens-bildern düsterer Dystopien (Huxleys Brave New World, Orwells 1984) weiterzuexistieren.

Den klassischen Utopien sind zwei Probleme gemeinsam. Das gute Leben in der jeweiligen Ausprägung wird erstens als allgemein anstrebenswert und verbindlich geltend angesehen. Wer das nicht sieht, wird dazu gezwungen. Und es werden zweitens keine Aussagen darüber gemacht, wie der Weg zur total guten Gesellschaft aussehen soll. Deutlich wird das erste Problem z.B. am Film Pleasantville: Die von eintönigem Glück geprägte Idylle einer grauen 50er Jahre Welt wird aufgewühlt – und bunt! – als zwei Teenies der Jetztzeit zeigen, dass das moralische Glück der family-values nicht alles ist, sondern dass Sex und Gewalt, Leidenschaft und Leiden, Euphorie und Gefahr Teil des Lebens sind. Mit anderen Worten: dass Freiheit und Idylle unvereinbar sind.
Einige aktuellere Utopien aus dem Umfeld der öko-feministischen Bewegung (Le Guins The Dispossessed, Piercys Woman on the Edge of Time, z.T. auch Callenbachs Ecotopia) gehen auf diesen Einwand ein, indem sie Alternativwelten aufzeigen, in denen Menschen nicht immer glücklich und nicht alle zufrieden sind. Sie leiden, es gibt Gefahren, es gibt weiterhin die Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen und mit den Konsequenzen zu leben. Die politischen Systeme der „klassischen“ Utopien, in denen in der einen oder anderen Form immer irgendwo ein weiser Philosophenkönig mitschwingt, weichen basisdemokratischen und/oder anarchistischen Vorstellungen. Politische Regularien werden als hintergehbar beschrieben und als robust genug, trotzdem zu funktionieren. Damit sind die Utopien der 70er Jahre realistischer als ihre älteren Pendants. Es wird keine per se glücklichere Gesellschaft gezeigt, sondern eine alternative Wirklichkeit, in der jeder einzelne Mensch freier als heute ist, dafür aber auch stärker – vor allem bewusster – in Entscheidungsprozesse und Verantwortlichkeiten eingebunden ist, nicht aber in die gesellschaftlichen Zwänge.

Und heute? Alternativentwürfe sind kaum sichtbar. Der Markt wird als naturgewaltig agierende Kraft wahrgenommen, Politik als System erscheint gerade aufgrund der großen politischen Veränderungen im ehemaligen Ostblock kaum noch veränderbar zu sein. Dies hängt sicherlich mit dem zweiten Problem zusammen, das realistische Utopien mit den älteren teilen: Der Frage danach, wie ein alternatives Gesamtsystem an die Stelle des jetzigen Systems treten soll. Denn so gut die Utopien auch waren – von sich aus die Massen überzeugt haben sie nicht. Und per Mehrheitsbeschluss durchsetzbar sind sie auch nicht. Darauf gibt es bis heute keine überzeugende Antwort.
Die Lage scheint pessimistisch zu sein, was sich ein bisschen am Dilemma der Grünen illustrieren lässt, die sich gründeten, um die Gesellschaft zu verändern und dann selber von der Gesellschaft massiv verändert worden sind. Die Folgen? Auch wenn Kohl gerade fällt: Der Kanzler ist noch immer der Kanzler. Konventionen und gesellschaftliche Moralvorstellungen schmelzen nur langsam dahin. Wenn die Grünen einmal dafür eingetreten waren, eine andere Republik zu schaffen, so geht es ihnen heute nicht mehr darum. Die Republik soll im Prinzip die gleiche bleiben, nur in den Details verbessert werden. Anders ist Mitregierenwollen wohl nicht denkbar. Und so ganz verwunderlich ist das alles nicht. Auch wenn es einmal anders gewesen sein mag: Heute passen Alltagespolitik und Utopie nicht mehr zusammen, so wie sich heute auch kaum jemand von dem Wunsch, an einer besseren Zukunft mitzuarbeiten, zu politischem Engagement verleiten lässt. Allein schon die Idee, gemeinsam für ein Ideal einer alternativen Republik einzutreten, wirkt altbacken und abschreckend kollektivistisch. Wer anderen Vorgaben machen will, wird scheel angeguckt. Utopien sind aber nichts anderes als ausgefeilte Vorgaben. Die neue Grundsatzdebatte der Partei ist symptomatisch dafür, dass ihr auf dem langen Marsch durch die Institutionen der Glaube an politische Veränderung im großen Maßstab verloren gegangen ist. Es lohnt sich aber eigentlich nicht, dies zu betrauern. So funktioniert Politik nun einmal.

Damit ist allerdings nicht gesagt, dass Utopien tot sind. Utopien können Sinn machen, wenn es um nähere Politik geht: Also nicht das bessere Leben für alle in der fernen Zukunft, sondern die ganz konkreten Vorstellungen der BürgerInnen darüber, wie ihr Ort in zehn, zwanzig Jahren aussehen soll. Beteiligende Elemente sind hier spätestens mit der Lokalen Agenda 21 wieder gefragt. Für den kleinen Raum, im Verzicht auf den großen Systemrahmen und dafür eingezwängt in Sachzwänge, funktioniert utopisches Denken auch heute noch.

Aber nicht nur im gemeinsamen Diskurs über die nahe Zukunft können Utopien heute noch eine Rolle spielen, sondern auch im Bewusstsein politisch Handelnder. Auch die schlimmsten Realos und die pragmatischten Linken haben doch irgendwo ethisch-moralische Leitlinien, ihr jeweils persönliches Bild davon, wie Zukunft aussehen sollte. Nicht unbedingt bewusst, nicht unbedingt ausgesprochen, häufig kaum reflektiert. Wer aber Politi-ker-Innen danach fragt, warum sie Politik machen, wird jedenfalls, neben dem reinen Machterhalt, auf Grund-über-zeugungen stoßen, die – ernst genommen – wieder als Utopien dastehen. Die Tagespolitik ist nicht der Raum, um solche Überzeugungen auszutauschen. Sie lassen sich nicht in parlamentarischen Debatten diskutieren oder per Mehrheit abstimmen. Dass hindert sie aber nicht daran, zu existieren, und ab und zu die Finger mit im Spiel zu haben. Individuelle Utopien greifen so auch heute in die Politik ein.
Und vielleicht kommen ja irgendwann wieder Zeiten, in denen über kollektive Alternativen gesell-schaftlich nachgedacht werden kann, zumindest im außerparlamentarischen Raum. Bis dahin kann es nur an jeder einzelnen liegen, Sachzwänge so weit wie möglich zu ignorieren und das eigene Leben nach der eigenen Utopie zu leben. Auch dadurch verändern sich Gesellschaften.
 
 

(c) Till Westermayer, März 2000. Veröffentlicht in: SPUNK (Zeitschrift des Grün-Alternativen Jugendbündnisses) #22, März 2000, S. 8/9.